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Montag, 15. Mai 2017

Mehr Schule wagen - Stiftungen legen Empfehlungen für bessere Ganztagsschulen vor



Nur einer von zehn Schülern in Deutschland ging 2002 auf eine Ganztagsschule. Heute lernen dort fast 40 Prozent aller Schüler. Für den Ausbau wurden große Anstrengungen unternommen, doch Bildungsforscher sind ernüchtert: Viele Ganztagsschulen nutzen die pädagogischen Potenziale nicht. Vier Stiftungen, die sich für bessere Bildung engagieren, haben deshalb umfassende Empfehlungen erarbeitet, was Politik und Verwaltung ändern sollten.

Eine Qualitätsoffensive für Ganztagsschulen – das fordern vier große deutsche Bildungsstiftungen. Der bisherige Ausbau sei nach dem Motto „Masse statt Klasse“ verlaufen: Zwar ist die Zahl der Ganztagsangebote in den vergangenen 15 Jahren enorm gestiegen. Das damit verbundene Versprechen auf bessere individuelle Förderung und mehr Chancengerechtigkeit jedoch werde kaum eingelöst, weil die politischen Vorgaben und Rahmenbedingungen unbefriedigend seien. Bertelsmann Stiftung, Robert Bosch Stiftung, Stiftung Mercator und Vodafone Stiftung Deutschland empfehlen deshalb eine neue Definition von Ganztagsschule. Zu den wichtigsten Vorschlägen ihrer heute veröffentlichten Studie „Mehr Schule wagen“ gehören längere Öffnungszeiten, bessere pädagogische Konzepte, mehr Gestaltungsspielräume für die Schulleitungen und eine höhere finanzielle Ausstattung.

Jeden Tag acht Stunden geöffnet
Fünf mal acht: „Ganztagsschulen sollen an fünf Tagen in der Woche mit jeweils acht Zeitstunden kostenfrei geöffnet sein“, heißt es in dem Papier der vier Stiftungen. Für die Schüler würde das nicht bedeuten, die kompletten 40 Wochenstunden in der Schule verbringen zu müssen. Aber es gäbe Kernzeiten, in denen für alle Schüler einer Jahrgangsstufe Anwesenheitspflicht besteht.

Diese Empfehlung weicht erheblich von der aktuellen Regelung der Kultusministerkonferenz (KMK) ab: Der zufolge darf sich schon Ganztagsschule nennen, wer an drei Tagen in der Woche sieben Stunden geöffnet hat. Zwar erfüllt mehr als die Hälfte aller deutschen Schulen derzeit diesen Mindeststandard. Allerdings reicht dieses Zeitkontingent nicht aus, um den starren 45-Minuten-Takt aufzulösen, einen pädagogisch sinnvollen Rhythmus aus Lern-, Arbeits- und Spielzeiten einzurichten sowie angemessen individuell auf die Stärken und Schwächen der Schüler einzugehen.

Hausaufgaben abschaffen
Ebenfalls wichtig: ein gesundes Mittagessen, längere Pausen und feste Arbeitszeiten, in denen der Unterrichtsstoff wiederholt und vertieft wird. In diesen Stunden sollen die Schüler nicht nur beaufsichtigt, sondern vom Klassenlehrer oder von Fachlehrern betreut werden, die auch sonst die Klasse unterrichten. „Solche Arbeitsformen machen es dann auch möglich, Hausaufgaben generell abzuschaffen“, heißt es in den Stiftungsempfehlungen.

Wären diese Kriterien bundesweit verbindlich, würden KMK und Länder die Leitplanken künftig deutlich enger setzen: Etliche Ganztagsschulen müssten ihr Angebot erheblich ausweiten und qualitativ hinterfragen oder auf das Etikett Ganztag verzichten. Das Modell aus 40 Wochenstunden mit Kern- und Angebotszeiten ließe auch die heutige Unterteilung in gebundene und offene Ganztagsschulen überflüssig werden. Diese beiden heutigen Formen von Ganztagsschule machen ihre Ganztagsangebote für die Schüler entweder vollständig verpflichtend oder komplett freiwillig. Um Qualität von Schule zu definieren und zu sichern, tauge diese starre Zweiteilung ohnehin nicht, sagen wissenschaftliche Forschung, pädagogische Praxis und schulpolitische Erfahrungen vor Ort.

Ganztag als pädagogische Chance begreifen
Politik und Verwaltung werden in der Studie aufgefordert, den einzelnen Schulen mehr Personal, größere Unterstützung und höhere organisatorische Gestaltungsfreiheit einzuräumen. Mehr Gestaltungsspielräume sollen die Schulleitungen insbesondere bei der Bewirtschaftung ihrer Mittel und bei der Auswahl des Personals erhalten. „Eine gute Ganztagsschule benötigt genügend pädagogische Fachkräfte, die den Ganztagscharakter als pädagogische Chance begreifen“, schreiben die vier Stiftungen. Um im Kollegium eine gemeinsame pädagogische Grundorientierung zu entwickeln, sind spezifische Fortbildungen, Coaching und wissenschaftliche Begleitung wünschenswert. Diese Unterstützung der mittel- und langfristigen Schulentwicklung sollte ergänzt werden durch mehr Ressourcen für Alltagsorganisation, für die zusätzliches Verwaltungspersonal und neue Arbeitszeitmodelle notwendig sind.


Zusatzinformationen:
Mit „Mehr Schule wagen: Empfehlungen für guten Ganztag“ legen die Bertelsmann Stiftung, die Robert Bosch Stiftung, die Stiftung Mercator und die Vodafone Stiftung Deutschland erstmals ein umfassendes Konzept zur Qualität im Ganztag vor, das Rahmenbedingungen und Qualitätsmerkmale gemeinsam betrachtet. Der Qualitätsrahmen basiert auf einer systematischen Auswertung des Handlungswissens exzellenter Ganztagsschulen, die für ihre herausragende pädagogische Arbeit mit dem Deutschen Schulpreis oder dem Jakob Muth-Preis ausgezeichnet worden waren. Dazu analysierte eine Forschergruppe aus Prof. Dr. Falk Radisch (Universität Rostock), Prof. em. Dr. Klaus-Jürgen Tillmann (Bielefeld) und Prof. em. Dr. Klaus Klemm (Essen) das Konzept und den Schulalltag von zehn Ganztagsschulen Anfang Mai haben die Stiftungen ihre Empfehlungen dem Schulausschuss der Kultusministerkonferenz in Berlin vorgestellt.

Download der Studie „Mehr Schule wagen – Empfehlungen für guten Ganztag“ unter:
www.stiftung-mercator.de/mehrschulewagen


Ansprechpartner:
Bertelsmann Stiftung
Dr. Dirk Zorn, dirk.zorn@bertelsmann-stiftung.de, Tel. 05241/81-81546
www.bertelsmann-stiftung.de

Robert Bosch Stiftung
Carolin Genkinger, Carolin.Genkinger@bosch-stiftung.de, Tel. 0711/46084-754

Stiftung Mercator
Dr. Petra Strähle, Petra.Straehle@stiftung-mercator.de, Tel. 0201/24522-811

Vodafone Stiftung Deutschland
Dr. Johanna Börsch-Supan, J.Boersch-Supan@vodafone.com, Tel. 0211/533-7924




Was die anderen Hochbegabten anders machen – ein Beispiel aus der Wirtschaft für die Politik


Foto: Ralf Voigt


Man erkennt sie.

Es sind die kleinen Einsteins, die Picassos und die Mozarts. Sie lesen schon mit sechs Jahren „The New York Times“, korrespondieren mit fünf Jahren in Mandarin und spielen mit vier Jahren die Spatzenmesse in C-Dur. Später studieren sie dann bereits mit 14 an einer Uni und werden jüngster Professor oder jüngste Professorin.

Man kennt sie.

Dann gibt es noch die anderen.

Ihre Begabung ist nicht so offensichtlich. Oder: offensichtlich nur für Eingeweihte. Für Kennerinnen und Kenner. Wahrscheinlich stehen sie nicht in einem Labor. Ob sie mit dem Pinsel umgehen können? Seien Sie tapfer: Wohl eher nicht so. Ob sie eine Stradivari zu schätzen wissen? Hm.

Und doch haben sie ihre Begabung. Erkennbar wie gesagt fast nur für Eingeweihte.

Ein Beispiel: Ich war Mitglied in einem Verband, der das Wort „Wirtschaft“ in seinem Namen trägt. Es ging um ein Thema, das alle Menschen bewegt. Wirklich alle. Wirklich jeden. Es ging um Politik. Und um den Anlauf zu einem neuen Gesetz. Man diskutierte. Und fragte sich, wie man denn überzeugend argumentieren könnte.

Ich erwähnte den Gedanken einer Befragung. Sie kennen das: In jeder grösseren Stadt stehen diese Interviewer auf der grossen Einkaufsstrasse und wollen wissen, welche Zahnpasta, welches Waschmittel, welche Automarke Sie bevorzugen. Strasseninterviews nennen wir das. Wir, das sind meine Kolleg*innen aus der Marktforschung und ich. Ich hatte damals ein Institut für Markt- und Kommunikationsforschung. Unsere Klienten aus der Politik und Wirtschaft waren bekannt und angesehen und wir waren stolz darauf, für sie forschen zu dürfen.

In meinem Verband war das bekannt.

Ja. Sagte man: Eine Befragung auf der Strasse ist ein überzeugendes Argument. Wir – wer auch immer „wir“ sein sollte – wir stellen uns auf die Strasse und befragen die Menschen. Und dann geben wir – und das war der Sinn der Sache – das Ergebnis an den OB der Stadt. Einer von meinen Kollegen im Verband meinte dann: Ob wir wohl 50 Menschen dazu bewegen können, mit uns zu reden?

Wie, sagte ich: 50 Menschen?

Ja. Sagten die anderen. 50 Menschen wäre eine tolle Sache.

Klar sind 50 Menschen eine tolle Sache. Aber: Wie wollen wir einen OB mit den Stimmen von 50 Menschen motivieren, ein neues Gesetz in Gang zu bringen? Nach einer halben Stunde hatte man sich auf 100 Menschen geeinigt. Mit dem Zusatz: Ob wir das wohl schaffen werden?

Warum so zaghaft?

Die Jungs und Mädels, die hier zusammen sassen, waren die Menschen, die täglich über Millionen entschieden. Ihre Denkweisen waren nicht 100 oder 1.000. Es waren 1.000.000 und mehr!

Mir war klar, dass ich meine lieben Kolleginnen und Kollegen jetzt schockieren musste. Nicht weil ich Schocks mag – aber ich musste ihnen schon sagen, wie so etwas in der Realität funktioniert. Dass man an den verantwortlichen Stellen – sorry – 100 Menschen als Beweis nicht gelten lassen wird. Man wird schmunzeln und zur Tagesordnung übergehen.

Noch bevor ich den Gedanken: „Wie sag‘ ich es das denn jetzt?“ zu einem Satz modellieren konnte, war es raus:

1.000 INTERVIEWS!
1.000 Interviews?

Das Entsetzen war gross. Nur unser Präsident war begeistert. Und dann ging das los, was zumeist los geht, wenn ein Hochbegabter – eine Hochbegabte – eine Idee und einen Weg vor Augen hat: GEHT NICHT! FUNKTIONIERT NICHT! SCHAFFEN WIR NICHT! WIR SIND DOCH NICHT VERRÜCKT! WER SOLL DAS DENN ALLES ZAHLEN?

Ich hörte mir das eine Stunde an, während ich das Konzept schrieb, die Umsetzung des Konzepts plante und einen Entwurf für den Fragebogen entwarf. Unser Präsident hatte mich aus den Augenwinkeln beobachtet und rief mich auf – nach vorne zu kommen und die Einzelheiten zu präsentieren. Gesagt. Getan.
Wir fanden über 50 Mitglieder aus dem Wirtschafts-Verband, die mitmachten. Manager*innen, die ich mit meinem Team für diesen Einsatz schulte. Es waren wohl die Interviewer*innen mit den höchsten Stundenlöhnen, die hier und heute ehrenamtlich auf die Strasse gingen und sehr mutig die Menschen nach ihrer Meinung befragten.

Um Mitternacht hatten wir 1.037 Interviews geschafft. Alle von meinen Forscherkollegen und mir kontrolliert. Alle perfekt. Es war ein harter Job – aber selten habe ich ein Team von fast 100 „Mitarbeiter*innen“ so begeistert arbeiten gesehen.

Am nächsten Morgen wurde noch einmal kontrolliert. Und dann gingen die Fragebögen ins Rechenzentrum zur Uni. Ich schrieb dazu einen Bericht für die Präsentation. Mein Team zeigte einen bewundernswerten Einsatz. Und so konnte ich meiner Assistentin auch nicht die Bitte abschlagen, die Ergebnisse beim OB präsentieren zu dürfen.

Der OB schien sehr zufrieden. Und so wanderten unsere Ergebnisse weiter „nach oben“. Und so wurde aus unserer Idee der Beweis, dass die Menschen diese Verbesserung ihres Alltags wirklich wollten.

Schliesslich wurde aus dem Beweis ein Gesetz in Deutschland, das jedem Menschen den Alltag etwas besser macht. Zur Freude der Menschen.
Nein, so faszinierend wie ein Picasso ist dieses Gesetz nicht.

Aber es erleichtert seitdem allen Menschen ihr Leben. Und das Tag für Tag in Deutschland.

Wenn Sie Unternehmer*in sind: Gründen Sie einen Think Tank mit Ihren Hochbegabten und allen, die mutig sind und gross denken und handeln können. Dann sind Sie nicht nur Ihre Probleme los. Sie haben auch die Chance, die Welt ein bisschen besser machen zu können.

Was sagte John F. Kennedy in seiner Antrittsrede am 20. Januar 1961 in Washington, D.C.:

„Fragt nicht, was euer Land für euch tun kann - fragt, was ihr für euer Land tun könnt (…) fragt, was wir gemeinsam tun können für die Freiheit des Menschen.“[1]

Lilli Cremer-Altgeld
Mobil 0049 1575 5167 001