Einsatz einer hirngesteuerten Handprothese im Alltag: bald ein normaler
Anblick?
Foto: Surjo R. Soekadar / Universität Tübingen
|
Datenschutz,
Haftung und Sicherheit müssen bedacht werden, verlangen Wissenschaftler der
Universität Tübingen
International
führende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf dem Gebiet der
Neurophysiologie, der Neurotechnologie und der Neuroethik haben ethische
Richtlinien für den Einsatz von Gehirn-Computer-Schnittstellen formuliert. Sie
sollen Datenschutz, Haftung und Sicherheit bei hirngesteuerten Systemen
gewährleisten; bisher wurden diese Aspekte wenig beachtet und sind teilweise
noch völlig ungeklärt. Technologien, die Hirnaktivität in Steuersignale von
Computern, Robotern oder Prothesen übersetzen, sind bereits sehr weit
entwickelt. In einem Beitrag für das Fachmagazin Science mit dem Titel
„Help, Hope and Hype“ fordern die Wissenschaftler einen verantwortungsbewussten
Umgang mit solchen Gehirn-Computer-Schnittstellen
(DOI: 10.1126/science.aam7731). Zentrale Forderung ist eine
„Veto“-Funktion, die unbeabsichtigte Befehle unterbricht. Die Forscherinnen und
Forscher, darunter die Tübinger Wissenschaftler Niels Birbaumer und Surjo R.
Soekadar, schlagen außerdem vor, dass alle Daten vorübergehend und verschlüsselt
gespeichert werden sollten, wie bei der Blackbox eines Flugzeugs.
Die
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben sich intensiv mit den ethischen
Aspekten von Gehirn-Computer-Schnittstellen auseinandergesetzt. Mit ihrer
Forschung haben einige von ihnen wesentlich dazu beigetragen, dass diese
Technologie für den medizinischen Bereich sehr weit entwickelt ist.
Mittlerweile haben auch private Investoren, wie Mark Zuckerberg (Facebook) oder
Elon Musk (Tesla, SpaceX) das Forschungsgebiet für sich entdeckt. Richtlinien
könnten Forschern, Entwicklern und Anwendern auf dem Weg zum alltäglichen
Einsatz der hirngesteuerten Systeme helfen, verantwortungsbewusst mit ethischen
Aspekten der Technologie umzugehen. Gleichzeitig sei es wichtig, die
Öffentlichkeit über Möglichkeiten und Grenzen der neuen Technologie zu
informieren. Bisher begeisterten Gehirn-Computer-Schnittstellen noch als
sensationelle Neuheiten – die gesellschaftliche Diskussion darüber sollte
jedoch faktenbasiert stattfinden.
Gehirn-Computer-Schnittstellen
sind Systeme, die Hirnaktivität in Steuersignale von Computern, Robotern oder
Prothesen übersetzen. Bereits 1999 fand der Tübinger Neuropsychologe Niels
Birbaumer eine Möglichkeit, Patienten mit sogenanntem Locked-In-Syndrom
mithilfe von Hirnsignalen Briefe buchstabieren zu lassen. 2017 ermöglichte er
auch vollständig Gelähmten im complete locked-in state (CLIS) einfache Ja/Nein
Antworten zu geben. Der Tübinger Psychiater und Neurowissenschaftler Surjo R.
Soekadar zeigte zuletzt, dass Gehirn-Computer-Schnittstellen auch im Alltag
einsetzbar sind. Beispielsweise können Querschnittsgelähmte mithilfe eines
hirngesteuerten Exoskeletts selbstständig essen und trinken.
Zwar
sei es noch nicht möglich, mit Gehirn-Computer-Schnittstellen komplexere Gedanken
auszulesen, erklärte Soekadar. „Dies kann sich aber möglicherweise bald ändern.
Wir müssen daher vom Ende her denken.“ Die aufgezeichneten Hirnsignale müssten
vor unerlaubtem Zugriff geschützt werden. Außerdem stelle sich die Frage der
Verantwortung für Fehler, die bei der Übersetzung von Hirnaktivität in
Steuersignale auftreten könnten. Als zentrale Forderung mahnen die Autorinnen
und Autoren hier eine „Veto“-Funktion an, um unbeabsichtigte Steuerbefehle der
Gehirn-Computer-Schnittstelle zu unterbrechen. „Der Mensch muss zu jedem
Zeitpunkt in der Lage sein, die Maschine zu stoppen“, so Soekadar. Auch sein
System verfüge über eine Veto-Funktion, die über eine bestimmte Augenbewegung
ausgelöst wird. Elektrische Hirnsignale, die von der Kopfoberfläche abgeleitet
werden, könnten für diese Funktion noch nicht
zuverlässig genutzt werden.
Wie
in einem Flugzeug müssten alle Biosignale und Steuerbefehle in einer Black-Box
für einen begrenzten Zeitraum gespeichert werden, so die Wissenschaftler. Nur
so ließen sich haftungsrechtliche Fragen eindeutig klären. Neben Schutz vor
unerlaubtem Auslesen aufgezeichneter Signale, müssten sämtliche Daten sicher
verschlüsselt werden. Dies sei aktuell keine gängige Praxis – es lasse sich
somit nicht ausschließen, dass Informationen von Dritten missbraucht würden
(„Brainhacking“). Bei implantierbaren Systemen oder
Gehirn-Computer-Schnittstellen, die Gehirngewebe auch direkt stimulieren
können, sei besondere Vorsicht geboten: Im Extremfall sei ein sogenanntes
„Brainjacking“ nicht auszuschließen, also die Manipulation des Systems zur
gezielten Beeinflussung von Hirnfunktionen oder Verhalten.
„Die
technologischen Fortschritte im Bereich der Gehirn-Computer-Schnittstellen
entwickeln sich derzeit so rasant, dass es höchste Zeit ist, rechtliche und
ethische Rahmenbedingungen zu definieren und durchzusetzen“, fordert Jens
Clausen, Neuroethiker an der Pädagogischen Hochschule Freiburg und Mitglied des
Internationalen Zentrums für Ethik in den Wissenschaften an der Universität Tübingen.
Eine Frage der Ethik sei auch der Umgang mit Hoffnungen, die bei Patienten und
ihren Angehörigen geweckt werden. Aufsehenerregende Demonstrationen
hirngesteuerter Systeme führten oft zu überzogenen Erwartungen. Die Medien
sowie wirtschaftliche Profiteure seien deshalb in der Verantwortung, den
Nutzen, aber auch Grenzen und Risiken dieser Technologien, ausgewogen
darzustellen. Die Vermittlung von Wissen über technische Möglichkeiten und
Grenzen (sogenannte „Neuroliteracy“) müsse Teil des öffentlichen Bildungsauftrags
werden.
Publikation: Clausen J, Fetz E, Donoghue J, Ushiba J, Spörhase U, Chandler J, Birbaumer N, Soekadar SR. Help, Hope and Hype: Ethical Dimensions of Neuroprosthetics. Science 2017;356 (6345):2-3. DOI: 10.1126/science.aam7731
Soekadar SR, Witkowski M, Gómez
C, Opisso E, Medina J, Cortese M, Cempini M, Carozza MC, Cohen LG, Birbaumer N,
Vitiello N. Hybrid EEG/EOG-based brain/neural hand exoskeleton restores fully
independent daily living activities after quadriplegia. Science Robotics
2016. 1, eaag 3296 (2016). Video zur Studie: http://goo.gl/qs3wjf
Chaudhary U, Xia B, Silvoni S,
Cohen LG, Birbaumer N. Brain-Computer Interface-Based Communication in the
Completely Locked-In State. PLoS
Biol.
2017;31:15:e1002593. DOI: 10.1371/journal.pbio.1002593.
Kontakt:
Dr.
Surjo R. Soekadar, MD
Universität
Tübingen
Universitätsklinik
für Psychiatrie und Psychotherapie
Arbeitsgruppe
Angewandte Neurotechnologie
Telefon
+49 7071 29-82640
Mobil
+49 163 16 44 88 9
Prof.
Dr. Jens Clausen
Pädagogische
Hochschule Freiburg
Ethik
und Lebenswissenschaften und ihre Didaktik
Telefon
+49 761 682-566