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Samstag, 10. Juni 2017

„Double Shift“ – Wie Jordanien Flüchtlingskindern eine Schulbildung ermöglicht


Das Fotoprojekt zeigt die persönlichen Wünsche von 85 jordanischen und syrischen Schulkindern. Foto: Paula Ellguth und Marjam Fels

Das Fotoprojekt zeigt die persönlichen Wünsche von 85 jordanischen und syrischen Schulkindern. Foto: Paula Ellguth und Marjam Fels


Morgens werden die jordanischen Kinder unterrichtet, nachmittags Schülerinnen und Schüler aus Syrien. „Double-Shift“ (Doppelschicht) heißt das Modell, das Jordanien einsetzt, um zusätzlich zu den eigenen Schulkindern hunderttausenden von Flüchtlingskindern aus dem benachbarten Bürgerkriegsland eine Schulbildung zu ermöglichen. Wie gelingt es einem kleinen Land wie Jordanien eine so gewaltige Herausforderung zu meistern? In einem gemeinsamen Forschungsprojekt haben das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), die Universität der Künste (UdK) und die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) das jordanische Schulsystem in den Blick genommen, das mit seinem Doppelschicht-System zum Vorbild für andere Länder werden könnte, die Kinder von Flüchtlingen und Migranten in ihr Schulsystem aufnehmen möchten. Die Ergebnisse des Projekts werden auf der multimedialen Webseite „Double Shift“ dokumentiert.
Das Doppelschicht-System wird von Jordanien seit 1960 praktiziert – ein Lösungsansatz, um überfüllte Klassenräume öffentlicher Schulen in Jordanien zu entlasten. Heute, mit mehr als 400.000 zusätzlichen Kindern aus Syrien, ist „Double-Shift“ ein effektives Instrument, um ihnen eine Schulbildung zu ermöglichen und sie in die Gesellschaft Jordaniens zu integrieren. Derzeit gibt es 100 Doppelschicht-Schulen im Land. Die interaktive Webseite double-shift.org dokumentiert in Bildern, Videos und Grafiken erstmals umfassend in einer Kombination von sozialwissenschaftlichen und gestalterischen Methoden den Alltag an den jordanischen Schulen in Zeiten des Syrienkonflikts.
„Double Shift“ hat seine Anfänge im „Visual Society Program“, einer Kooperation zwischen dem WZB und der Universität der Künste (UdK), die von David Skopec initiiert wurde. Das Programm zeichnet sich dadurch aus, dass Gestalter/-innen und Sozialwissenschaftler/-innen zusammenarbeiten und forschen. Das Projektteam besteht aus Steffen Huck, dem Direktor der Abteilung Ökonomik des Wandels am WZB, Heike Harmgart, Leiterin des Resident Office der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) in Jordanien, den Gestalterinnen Paula Ellguth und Marjam Fels und dem wissenschaftlichen Mitarbeiter Philipp Albert (alle drei WZB). Zweimal war das Team für mehrere Wochen in Jordanien; sie besuchten Schulen, sprachen mit Schulleiterinnen, Vertretern von NGOs (UNICEF, United States Agency for International Development) und Ministerien und interviewten Eltern. In Workshops wurden zudem die Schülerinnen und Schüler nach ihren Wünschen und Zielen befragt.
Das Projekt zeigt: Dem Land gelingt es überwiegend, die Flüchtlingskinder zu integrieren, doch der Schulalltag bleibt wegen fehlender Ressourcen wie Wasser, Räume, Schulmöbel und -materialien eine Herausforderung. Außerdem gibt es auch kritische Stimmen im Land, unter anderem weil die jordanischen und syrischen Kinder meist getrennt unterrichtet werden. „Dennoch ist das Engagement der Lehrerinnen und Lehrer überwältigend und die Bilanz positiv“, sagt Steffen Huck.
Auch für die jordanische Wirtschaft könnte sich die Investition in Bildung für syrische Flüchtlingskinder als Gewinn erweisen. Vor allem durch das Doppelschicht-System gelingt es dem Land, mit vergleichsweise geringem finanziellem Aufwand Kinder zu einer Schulbildung zu verhelfen. Die Analyse „benefits through education“ im Projekt zeigt: Wenn den verbleibenden 79.500 registrierten Flüchtlingskindern aus Syrien, die derzeit noch nicht in Schulen integriert sind, Bildung durch das Doppelschichtsystem ermöglicht werden könnte, würde für Jordanien ein wirtschaftlicher Mehrwert von 266 Millionen Dollar entstehen.
Aus Sicht von Heike Harmgart ist die Investition in die Bildung ein wesentlicher Bestandteil für das ressourcenarme Jordanien – die Kinder sind die Zukunft des Landes.

Die Website „Double Shift“ finden Sie hier.
Pressekontakt
Prof. Dr. Steffen Huck
Direktor der Abteilung
Ökonomik des Wandels
Telefon: 030-25491-421
steffen.huck@wzb.eu
 
Kerstin Schneider
WZB-Pressestelle
Telefon 030-25491-506
kerstin.schneider@wzb.eu 

Was die anderen Hochbegabten anders machen – ein Beispiel aus der Wirtschaft für die Politik


Foto: Ralf Voigt


Man erkennt sie.

Es sind die kleinen Einsteins, die Picassos und die Mozarts. Sie lesen schon mit sechs Jahren „The New York Times“, korrespondieren mit fünf Jahren in Mandarin und spielen mit vier Jahren die Spatzenmesse in C-Dur. Später studieren sie dann bereits mit 14 an einer Uni und werden jüngster Professor oder jüngste Professorin.

Man kennt sie.

Dann gibt es noch die anderen.

Ihre Begabung ist nicht so offensichtlich. Oder: offensichtlich nur für Eingeweihte. Für Kennerinnen und Kenner. Wahrscheinlich stehen sie nicht in einem Labor. Ob sie mit dem Pinsel umgehen können? Seien Sie tapfer: Wohl eher nicht so. Ob sie eine Stradivari zu schätzen wissen? Hm.

Und doch haben sie ihre Begabung. Erkennbar wie gesagt fast nur für Eingeweihte.

Ein Beispiel: Ich war Mitglied in einem Verband, der das Wort „Wirtschaft“ in seinem Namen trägt. Es ging um ein Thema, das alle Menschen bewegt. Wirklich alle. Wirklich jeden. Es ging um Politik. Und um den Anlauf zu einem neuen Gesetz. Man diskutierte. Und fragte sich, wie man denn überzeugend argumentieren könnte.

Ich erwähnte den Gedanken einer Befragung. Sie kennen das: In jeder grösseren Stadt stehen diese Interviewer auf der grossen Einkaufsstrasse und wollen wissen, welche Zahnpasta, welches Waschmittel, welche Automarke Sie bevorzugen. Strasseninterviews nennen wir das. Wir, das sind meine Kolleg*innen aus der Marktforschung und ich. Ich hatte damals ein Institut für Markt- und Kommunikationsforschung. Unsere Klienten aus der Politik und Wirtschaft waren bekannt und angesehen und wir waren stolz darauf, für sie forschen zu dürfen.

In meinem Verband war das bekannt.

Ja. Sagte man: Eine Befragung auf der Strasse ist ein überzeugendes Argument. Wir – wer auch immer „wir“ sein sollte – wir stellen uns auf die Strasse und befragen die Menschen. Und dann geben wir – und das war der Sinn der Sache – das Ergebnis an den OB der Stadt. Einer von meinen Kollegen im Verband meinte dann: Ob wir wohl 50 Menschen dazu bewegen können, mit uns zu reden?

Wie, sagte ich: 50 Menschen?

Ja. Sagten die anderen. 50 Menschen wäre eine tolle Sache.

Klar sind 50 Menschen eine tolle Sache. Aber: Wie wollen wir einen OB mit den Stimmen von 50 Menschen motivieren, ein neues Gesetz in Gang zu bringen? Nach einer halben Stunde hatte man sich auf 100 Menschen geeinigt. Mit dem Zusatz: Ob wir das wohl schaffen werden?

Warum so zaghaft?

Die Jungs und Mädels, die hier zusammen sassen, waren die Menschen, die täglich über Millionen entschieden. Ihre Denkweisen waren nicht 100 oder 1.000. Es waren 1.000.000 und mehr!

Mir war klar, dass ich meine lieben Kolleginnen und Kollegen jetzt schockieren musste. Nicht weil ich Schocks mag – aber ich musste ihnen schon sagen, wie so etwas in der Realität funktioniert. Dass man an den verantwortlichen Stellen – sorry – 100 Menschen als Beweis nicht gelten lassen wird. Man wird schmunzeln und zur Tagesordnung übergehen.

Noch bevor ich den Gedanken: „Wie sag‘ ich es das denn jetzt?“ zu einem Satz modellieren konnte, war es raus:

1.000 INTERVIEWS!
1.000 Interviews?

Das Entsetzen war gross. Nur unser Präsident war begeistert. Und dann ging das los, was zumeist los geht, wenn ein Hochbegabter – eine Hochbegabte – eine Idee und einen Weg vor Augen hat: GEHT NICHT! FUNKTIONIERT NICHT! SCHAFFEN WIR NICHT! WIR SIND DOCH NICHT VERRÜCKT! WER SOLL DAS DENN ALLES ZAHLEN?

Ich hörte mir das eine Stunde an, während ich das Konzept schrieb, die Umsetzung des Konzepts plante und einen Entwurf für den Fragebogen entwarf. Unser Präsident hatte mich aus den Augenwinkeln beobachtet und rief mich auf – nach vorne zu kommen und die Einzelheiten zu präsentieren. Gesagt. Getan.
Wir fanden über 50 Mitglieder aus dem Wirtschafts-Verband, die mitmachten. Manager*innen, die ich mit meinem Team für diesen Einsatz schulte. Es waren wohl die Interviewer*innen mit den höchsten Stundenlöhnen, die hier und heute ehrenamtlich auf die Strasse gingen und sehr mutig die Menschen nach ihrer Meinung befragten.

Um Mitternacht hatten wir 1.037 Interviews geschafft. Alle von meinen Forscherkollegen und mir kontrolliert. Alle perfekt. Es war ein harter Job – aber selten habe ich ein Team von fast 100 „Mitarbeiter*innen“ so begeistert arbeiten gesehen.

Am nächsten Morgen wurde noch einmal kontrolliert. Und dann gingen die Fragebögen ins Rechenzentrum zur Uni. Ich schrieb dazu einen Bericht für die Präsentation. Mein Team zeigte einen bewundernswerten Einsatz. Und so konnte ich meiner Assistentin auch nicht die Bitte abschlagen, die Ergebnisse beim OB präsentieren zu dürfen.

Der OB schien sehr zufrieden. Und so wanderten unsere Ergebnisse weiter „nach oben“. Und so wurde aus unserer Idee der Beweis, dass die Menschen diese Verbesserung ihres Alltags wirklich wollten.

Schliesslich wurde aus dem Beweis ein Gesetz in Deutschland, das jedem Menschen den Alltag etwas besser macht. Zur Freude der Menschen.
Nein, so faszinierend wie ein Picasso ist dieses Gesetz nicht.

Aber es erleichtert seitdem allen Menschen ihr Leben. Und das Tag für Tag in Deutschland.

Wenn Sie Unternehmer*in sind: Gründen Sie einen Think Tank mit Ihren Hochbegabten und allen, die mutig sind und gross denken und handeln können. Dann sind Sie nicht nur Ihre Probleme los. Sie haben auch die Chance, die Welt ein bisschen besser machen zu können.

Was sagte John F. Kennedy in seiner Antrittsrede am 20. Januar 1961 in Washington, D.C.:

„Fragt nicht, was euer Land für euch tun kann - fragt, was ihr für euer Land tun könnt (…) fragt, was wir gemeinsam tun können für die Freiheit des Menschen.“[1]

Lilli Cremer-Altgeld
Mobil 0049 1575 5167 001