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Freitag, 30. Juni 2017

Ethische Richtlinien für den Einsatz von Gehirn-Computer-Schnittstellen gefordert


Einsatz einer hirngesteuerten Handprothese im Alltag: bald ein normaler Anblick?
Foto: Surjo R. Soekadar / Universität Tübingen


Datenschutz, Haftung und Sicherheit müssen bedacht werden, verlangen Wissenschaftler der Universität Tübingen

International führende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf dem Gebiet der Neurophysiologie, der Neurotechnologie und der Neuroethik haben ethische Richtlinien für den Einsatz von Gehirn-Computer-Schnittstellen formuliert. Sie sollen Datenschutz, Haftung und Sicherheit bei hirngesteuerten Systemen gewährleisten; bisher wurden diese Aspekte wenig beachtet und sind teilweise noch völlig ungeklärt. Technologien, die Hirnaktivität in Steuersignale von Computern, Robotern oder Prothesen übersetzen, sind bereits sehr weit entwickelt. In einem Beitrag für das Fachmagazin Science mit dem Titel „Help, Hope and Hype“ fordern die Wissenschaftler einen verantwortungsbewussten Umgang mit solchen Gehirn-Computer-Schnittstellen (DOI: 10.1126/science.aam7731). Zentrale Forderung ist eine „Veto“-Funktion, die unbeabsichtigte Befehle unterbricht. Die Forscherinnen und Forscher, darunter die Tübinger Wissenschaftler Niels Birbaumer und Surjo R. Soekadar, schlagen außerdem vor, dass alle Daten vorübergehend und verschlüsselt gespeichert werden sollten, wie bei der Blackbox eines Flugzeugs.

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben sich intensiv mit den ethischen Aspekten von Gehirn-Computer-Schnittstellen auseinandergesetzt. Mit ihrer Forschung haben einige von ihnen wesentlich dazu beigetragen, dass diese Technologie für den medizinischen Bereich sehr weit entwickelt ist. Mittlerweile haben auch private Investoren, wie Mark Zuckerberg (Facebook) oder Elon Musk (Tesla, SpaceX) das Forschungsgebiet für sich entdeckt. Richtlinien könnten Forschern, Entwicklern und Anwendern auf dem Weg zum alltäglichen Einsatz der hirngesteuerten Systeme helfen, verantwortungsbewusst mit ethischen Aspekten der Technologie umzugehen. Gleichzeitig sei es wichtig, die Öffentlichkeit über Möglichkeiten und Grenzen der neuen Technologie zu informieren. Bisher begeisterten Gehirn-Computer-Schnittstellen noch als sensationelle Neuheiten – die gesellschaftliche Diskussion darüber sollte jedoch faktenbasiert stattfinden.

Gehirn-Computer-Schnittstellen sind Systeme, die Hirnaktivität in Steuersignale von Computern, Robotern oder Prothesen übersetzen. Bereits 1999 fand der Tübinger Neuropsychologe Niels Birbaumer eine Möglichkeit, Patienten mit sogenanntem Locked-In-Syndrom mithilfe von Hirnsignalen Briefe buchstabieren zu lassen. 2017 ermöglichte er auch vollständig Gelähmten im complete locked-in state (CLIS) einfache Ja/Nein Antworten zu geben. Der Tübinger Psychiater und Neurowissenschaftler Surjo R. Soekadar zeigte zuletzt, dass Gehirn-Computer-Schnittstellen auch im Alltag einsetzbar sind. Beispielsweise können Querschnittsgelähmte mithilfe eines hirngesteuerten Exoskeletts selbstständig essen und trinken.

Zwar sei es noch nicht möglich, mit Gehirn-Computer-Schnittstellen komplexere Gedanken auszulesen, erklärte Soekadar. „Dies kann sich aber möglicherweise bald ändern. Wir müssen daher vom Ende her denken.“ Die aufgezeichneten Hirnsignale müssten vor unerlaubtem Zugriff geschützt werden. Außerdem stelle sich die Frage der Verantwortung für Fehler, die bei der Übersetzung von Hirnaktivität in Steuersignale auftreten könnten. Als zentrale Forderung mahnen die Autorinnen und Autoren hier eine „Veto“-Funktion an, um unbeabsichtigte Steuerbefehle der Gehirn-Computer-Schnittstelle zu unterbrechen. „Der Mensch muss zu jedem Zeitpunkt in der Lage sein, die Maschine zu stoppen“, so Soekadar. Auch sein System verfüge über eine Veto-Funktion, die über eine bestimmte Augenbewegung ausgelöst wird. Elektrische Hirnsignale, die von der Kopfoberfläche abgeleitet werden, könnten für diese Funktion noch nicht zuverlässig genutzt werden.

Wie in einem Flugzeug müssten alle Biosignale und Steuerbefehle in einer Black-Box für einen begrenzten Zeitraum gespeichert werden, so die Wissenschaftler. Nur so ließen sich haftungsrechtliche Fragen eindeutig klären. Neben Schutz vor unerlaubtem Auslesen aufgezeichneter Signale, müssten sämtliche Daten sicher verschlüsselt werden. Dies sei aktuell keine gängige Praxis – es lasse sich somit nicht ausschließen, dass Informationen von Dritten missbraucht würden („Brainhacking“). Bei implantierbaren Systemen oder Gehirn-Computer-Schnittstellen, die Gehirngewebe auch direkt stimulieren können, sei besondere Vorsicht geboten: Im Extremfall sei ein sogenanntes „Brainjacking“ nicht auszuschließen, also die Manipulation des Systems zur gezielten Beeinflussung von Hirnfunktionen oder Verhalten.

„Die technologischen Fortschritte im Bereich der Gehirn-Computer-Schnittstellen entwickeln sich derzeit so rasant, dass es höchste Zeit ist, rechtliche und ethische Rahmenbedingungen zu definieren und durchzusetzen“, fordert Jens Clausen, Neuroethiker an der Pädagogischen Hochschule Freiburg und Mitglied des Internationalen Zentrums für Ethik in den Wissenschaften an der Universität Tübingen. Eine Frage der Ethik sei auch der Umgang mit Hoffnungen, die bei Patienten und ihren Angehörigen geweckt werden. Aufsehenerregende Demonstrationen hirngesteuerter Systeme führten oft zu überzogenen Erwartungen. Die Medien sowie wirtschaftliche Profiteure seien deshalb in der Verantwortung, den Nutzen, aber auch Grenzen und Risiken dieser Technologien, ausgewogen darzustellen. Die Vermittlung von Wissen über technische Möglichkeiten und Grenzen (sogenannte „Neuroliteracy“) müsse Teil des öffentlichen Bildungsauftrags werden.




Publikation:
Clausen J, Fetz E, Donoghue J, Ushiba J, Spörhase U, Chandler J, Birbaumer N, Soekadar SR. Help, Hope and Hype: Ethical Dimensions of Neuroprosthetics. Science 2017;356 (6345):2-3. DOI: 10.1126/science.aam7731

Soekadar SR, Witkowski M, Gómez C, Opisso E, Medina J, Cortese M, Cempini M, Carozza MC, Cohen LG, Birbaumer N, Vitiello N. Hybrid EEG/EOG-based brain/neural hand exoskeleton restores fully independent daily living activities after quadriplegia. Science Robotics 2016. 1, eaag 3296 (2016). Video zur Studie: http://goo.gl/qs3wjf

Chaudhary U, Xia B, Silvoni S, Cohen LG, Birbaumer N. Brain-Computer Interface-Based Communication in the Completely Locked-In State. PLoS Biol. 2017;31:15:e1002593. DOI: 10.1371/journal.pbio.1002593.

Kontakt:
Dr. Surjo R. Soekadar, MD
Universität Tübingen
Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Arbeitsgruppe Angewandte Neurotechnologie
Telefon +49 7071 29-82640
Mobil +49 163 16 44 88 9

Prof. Dr. Jens Clausen
Pädagogische Hochschule Freiburg
Ethik und Lebenswissenschaften und ihre Didaktik
Telefon +49 761 682-566



Was die anderen Hochbegabten anders machen – ein Beispiel aus der Wirtschaft für die Politik


Foto: Ralf Voigt


Man erkennt sie.

Es sind die kleinen Einsteins, die Picassos und die Mozarts. Sie lesen schon mit sechs Jahren „The New York Times“, korrespondieren mit fünf Jahren in Mandarin und spielen mit vier Jahren die Spatzenmesse in C-Dur. Später studieren sie dann bereits mit 14 an einer Uni und werden jüngster Professor oder jüngste Professorin.

Man kennt sie.

Dann gibt es noch die anderen.

Ihre Begabung ist nicht so offensichtlich. Oder: offensichtlich nur für Eingeweihte. Für Kennerinnen und Kenner. Wahrscheinlich stehen sie nicht in einem Labor. Ob sie mit dem Pinsel umgehen können? Seien Sie tapfer: Wohl eher nicht so. Ob sie eine Stradivari zu schätzen wissen? Hm.

Und doch haben sie ihre Begabung. Erkennbar wie gesagt fast nur für Eingeweihte.

Ein Beispiel: Ich war Mitglied in einem Verband, der das Wort „Wirtschaft“ in seinem Namen trägt. Es ging um ein Thema, das alle Menschen bewegt. Wirklich alle. Wirklich jeden. Es ging um Politik. Und um den Anlauf zu einem neuen Gesetz. Man diskutierte. Und fragte sich, wie man denn überzeugend argumentieren könnte.

Ich erwähnte den Gedanken einer Befragung. Sie kennen das: In jeder grösseren Stadt stehen diese Interviewer auf der grossen Einkaufsstrasse und wollen wissen, welche Zahnpasta, welches Waschmittel, welche Automarke Sie bevorzugen. Strasseninterviews nennen wir das. Wir, das sind meine Kolleg*innen aus der Marktforschung und ich. Ich hatte damals ein Institut für Markt- und Kommunikationsforschung. Unsere Klienten aus der Politik und Wirtschaft waren bekannt und angesehen und wir waren stolz darauf, für sie forschen zu dürfen.

In meinem Verband war das bekannt.

Ja. Sagte man: Eine Befragung auf der Strasse ist ein überzeugendes Argument. Wir – wer auch immer „wir“ sein sollte – wir stellen uns auf die Strasse und befragen die Menschen. Und dann geben wir – und das war der Sinn der Sache – das Ergebnis an den OB der Stadt. Einer von meinen Kollegen im Verband meinte dann: Ob wir wohl 50 Menschen dazu bewegen können, mit uns zu reden?

Wie, sagte ich: 50 Menschen?

Ja. Sagten die anderen. 50 Menschen wäre eine tolle Sache.

Klar sind 50 Menschen eine tolle Sache. Aber: Wie wollen wir einen OB mit den Stimmen von 50 Menschen motivieren, ein neues Gesetz in Gang zu bringen? Nach einer halben Stunde hatte man sich auf 100 Menschen geeinigt. Mit dem Zusatz: Ob wir das wohl schaffen werden?

Warum so zaghaft?

Die Jungs und Mädels, die hier zusammen sassen, waren die Menschen, die täglich über Millionen entschieden. Ihre Denkweisen waren nicht 100 oder 1.000. Es waren 1.000.000 und mehr!

Mir war klar, dass ich meine lieben Kolleginnen und Kollegen jetzt schockieren musste. Nicht weil ich Schocks mag – aber ich musste ihnen schon sagen, wie so etwas in der Realität funktioniert. Dass man an den verantwortlichen Stellen – sorry – 100 Menschen als Beweis nicht gelten lassen wird. Man wird schmunzeln und zur Tagesordnung übergehen.

Noch bevor ich den Gedanken: „Wie sag‘ ich es das denn jetzt?“ zu einem Satz modellieren konnte, war es raus:

1.000 INTERVIEWS!
1.000 Interviews?

Das Entsetzen war gross. Nur unser Präsident war begeistert. Und dann ging das los, was zumeist los geht, wenn ein Hochbegabter – eine Hochbegabte – eine Idee und einen Weg vor Augen hat: GEHT NICHT! FUNKTIONIERT NICHT! SCHAFFEN WIR NICHT! WIR SIND DOCH NICHT VERRÜCKT! WER SOLL DAS DENN ALLES ZAHLEN?

Ich hörte mir das eine Stunde an, während ich das Konzept schrieb, die Umsetzung des Konzepts plante und einen Entwurf für den Fragebogen entwarf. Unser Präsident hatte mich aus den Augenwinkeln beobachtet und rief mich auf – nach vorne zu kommen und die Einzelheiten zu präsentieren. Gesagt. Getan.
Wir fanden über 50 Mitglieder aus dem Wirtschafts-Verband, die mitmachten. Manager*innen, die ich mit meinem Team für diesen Einsatz schulte. Es waren wohl die Interviewer*innen mit den höchsten Stundenlöhnen, die hier und heute ehrenamtlich auf die Strasse gingen und sehr mutig die Menschen nach ihrer Meinung befragten.

Um Mitternacht hatten wir 1.037 Interviews geschafft. Alle von meinen Forscherkollegen und mir kontrolliert. Alle perfekt. Es war ein harter Job – aber selten habe ich ein Team von fast 100 „Mitarbeiter*innen“ so begeistert arbeiten gesehen.

Am nächsten Morgen wurde noch einmal kontrolliert. Und dann gingen die Fragebögen ins Rechenzentrum zur Uni. Ich schrieb dazu einen Bericht für die Präsentation. Mein Team zeigte einen bewundernswerten Einsatz. Und so konnte ich meiner Assistentin auch nicht die Bitte abschlagen, die Ergebnisse beim OB präsentieren zu dürfen.

Der OB schien sehr zufrieden. Und so wanderten unsere Ergebnisse weiter „nach oben“. Und so wurde aus unserer Idee der Beweis, dass die Menschen diese Verbesserung ihres Alltags wirklich wollten.

Schliesslich wurde aus dem Beweis ein Gesetz in Deutschland, das jedem Menschen den Alltag etwas besser macht. Zur Freude der Menschen.
Nein, so faszinierend wie ein Picasso ist dieses Gesetz nicht.

Aber es erleichtert seitdem allen Menschen ihr Leben. Und das Tag für Tag in Deutschland.

Wenn Sie Unternehmer*in sind: Gründen Sie einen Think Tank mit Ihren Hochbegabten und allen, die mutig sind und gross denken und handeln können. Dann sind Sie nicht nur Ihre Probleme los. Sie haben auch die Chance, die Welt ein bisschen besser machen zu können.

Was sagte John F. Kennedy in seiner Antrittsrede am 20. Januar 1961 in Washington, D.C.:

„Fragt nicht, was euer Land für euch tun kann - fragt, was ihr für euer Land tun könnt (…) fragt, was wir gemeinsam tun können für die Freiheit des Menschen.“[1]

Lilli Cremer-Altgeld
Mobil 0049 1575 5167 001